Auflösung der Identitäten: Gefahr oder neue Perspektiven?

Mensch zu sein, das war schon immer schwierig. Der Mensch […] besitzt einen unendlichen Geist, der sich in einer endlichen physischen Struktur befindet. Deswegen ist der Mensch strukturell gespalten. Deswegen ist seine Identität nie ein sicher erreichtes, ein stabiles Gut oder eine reine Tatsache […]. Der Mensch wusste schon immer, dass Mensch zu sein eine Aufgabe ist, dass der Mensch ein Paradox ist: […] er muss jeder Zeit in sich selbst graben, um das Geheimnis, das in ihm wohnt und ihn unruhig macht, zu erforschen und somit der eigenen Umwelt einen Sinn zu verleihen. „Erkenne dich selbst“ war also, seit Delphi, das höchste Gebot des abendländischen Menschen. Aber es ist dasselbe Gebot, das als Ursprung der vedisch-indischen Tradition gilt: atmanam viddhi, er-kenne dein atman, deine Seele, dich selbst, deine wahre Identität. […]

Das heißt, wir könnten zu Recht meinen, dass die steifen gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Identitäten, auf die alle Zivilisationen, die wir kennen, aufbauen, aus einer tiefgründigen Vergessenheit entstehen. Das bedeutet, dass die Völker der Erde alle gesellschaftlichen Schranken bzw. Trennungen, wie die Identitäten des Königs und des Priesters, […] des Griechen und des Juden, […] des Kapitalisten und des Proletariers, der Hausfrau und des Fürsten, nur deshalb aufgebaut haben, weil sie vergessen hatten, wer der Mensch wirklich ist. Wir haben also […] enorme und gewalttätige Identitäten aufgebaut, die Kaste, soziale Schicht, Geschlecht, Nationalität, Religion heißen, und sie fast immer dafür verwendet, uns gegenseitig zu bekämpfen, zu unterwerfen, zu unterdrücken […].

 

Diese Formen von Identitäten, die aus der Vergessenheit der wahren menschlichen Identität und deren Erforschung entstanden sind – Erforschung, die nur einige wenige Weise, Propheten, Heilige betrieben haben, die genauso bewundert wie überhört und oft getötet worden sind (von Sokrates bis Jesus, zu Franz von Assisi oder Gandhi) –, sind eigentlich alle kriegerisch, da sie die Menschen trennen und gegenüberstellen aufgrund von Vorurteilen und Anmaßungen […].

 

Genau diese kriegerischen Bilder der Identitäten der Menschheit sind es, die sich am Anfang der Moderne langsam auflösen […]

Von daher sollten wir die zu recht stattfindende Auflösung dieser Strukturen der Gewalt und der Unterwerfung nicht allzu sehr bedauern. Das wahre Problem besteht eher darin: […] welche ist die neue Menschheitsgestalt, die alle Formen von Identitäten der Welt langsam verändert? […]

 

Der Traum, den die Moderne einleitet, d.h. die Möglichkeit für den Menschen, das zu werden, was er will, indem er jede Grenze überschreiten kann, scheint sich letztendlich zu verwirklichen […]. Die postmodernen Kulturen beteuern laut und selbstsicher diese neue Form der Identität, die ein unbeständiges Konstrukt sein kann. Seit Derrida und Habermas, konzipiert man eine menschliche Identität, die ausschließlich vom Menschen in den historisch-sprachlichen Prozessen kreiert wird […]. Und jegliche Destrukturierung der traditionellen Identitäten wird für gut geheißen und als ein Schritt in Richtung Freiheit und Gleichheit erklärt, aber noch mehr, als ein Schritt in Richtung Authentizität. Dies stimmt aber nur teilweise […]. Denn diese Tendenzen, die den Anspruch haben, im Namen einer menschlichen Authentizität zu sprechen, erklären uns fast nie, was oder wer dieser Autós ist, dieses Selbst, diese wahre Identität, in dessen Namen wir uns von den alten, falschen und kriegerischen Identitäten befreien müssen. Dies bedeutet, dass die menschliche Authentizität, die in keinem beständigen Autòs  wurzelt, Gefahr läuft, durch die reine Willkür einzelner, kleiner, arroganter und streitsüchtiger „Ichs“ definiert zu werden, die beinahe vollständig von den oberflächlichsten und mechanischsten Trieben, von den schlimmsten psychischen Automatismen oder schlicht und einfach von der Werbung fremdgesteuert sind (auch in den eigenen politischen Entscheidungen). Von wegen Auto-nomie: Hier befinden wir uns auf der Schwelle zu a-demokratischen oder post-demokratischen Gesellschaften. […] Wir können uns also nach keiner Authentizität, sprich nach einer wahren menschlichen Identität, jenseits der historischen Unterschiede, sehnen, ohne uns auf etwas zu berufen, das über einen Sinn, eine  Kraft und eine Tiefe verfügt und die unmittelbaren und unbeständigen historischen Bestimmungen übersteigt […].

Ohne diese fortschrittliche [(im evolutionären Sinne)] Übersteigung, die auf eine neue Gestalt der Menschheit abzielt, die wirklich weniger Widersprüche und kriegerisches Potenzial enthält und freier ist, bringt uns die Auflösung der traditionellen Identitäten in eine Leere oder zum sozialen Zerfall. […]

Wir müssen also besser verstehen, dass die über Jahrhunderte vorangetriebene Auflösung der kampflustigen Inhalte der traditionellen Identitäten, im Namen einer radikalen menschlichen Authentizität,  eine neue und einheitliche menschliche Gestalt entstehen lässt, die post-kriegerisch und beziehungsfähig ist. Diese ist übrigens die Entwicklungsrichtung der gesamten Moderne. Und genau diese neue und fortgestrittenere menschliche Gestalt sollten wir in dieser epochalen Kehrtwende verkörpern, nicht im Namen irgendeiner Moral, sondern schlicht und einfach, um überhaupt überleben zu können.

 

 

(Aus: Marco Guzzi, Dalla fine all’inizio. Saggi apocalittici, Paoline, Milano, 2011, p. 15 – 29 [Marco Guzzi, Vom Ende zum Anfang. Apokalyptische Essays, Paoline, Miland, 2011, S. 15; Übersetzung dieses Auszuges: E. Pompetti])