Die Schwierigkeit der Beziehungen und die Einfühlung. Eine Lesung von Edith Stein

Wie oft hört man über Beziehungen sprechen? Mit diesem Wort meine ich die Gesamtheit der Beziehungen, die unser Leben bilden. Jedoch ist es immer deutlicher, dass unsere Gesellschaft von einem starken Individualismus gekennzeichnet ist. Wir möchten uns von anderen unterscheiden und irgendwie eine „Rolle“ oder einen Bereich haben, wo endlich diese „Einzigartigkeit“ und besondere Eigenschaften auftauchen können. Ich glaube, dieses Phänomen zu hinterfragen, ist schwieriger als es scheint.

Hier würden sich viele Frage stellen, die in diesem Kontext nicht einfach zu beantworten sind. Wie zum Beispiel: Was ist dieses Ich? Woraus besteht die Identität eines Individuums? Eines ist gewiss: Dieses Ich kann nicht ein für allemal bestimmt werden. Dieses Ich bildet und erneuert sich tagtäglich und es steht immer in Verbindung mit allen und allem. Aus diesem Grund sind Beziehungen, meiner Meinung nach, sehr schwierig: sie sind eine anstrengende Herausforderung. Unser Ich wird durch die Beziehungen und in den Beziehungen immer wieder „geformt“ und beeinflusst. Aber Beziehungen stellen irgendwie auch eine solche „Gefahr“ dar. Ich spreche von einer psychologischen aber sehr starken „Illusion“, wenn ich denke oder sogar spüre, dass die Anderen mit ihrer Identität meine „Identität“ bedrohen können. Zum Beispiel wenn sie in „meinem Bereich“ oder in einer Gruppe, sogar in der Familie besser als ich erscheinen. Was mache ich? Ziehe ich mich zurück, kämpfe ich oder breche die Beziehung ab? Vielleicht gibt es auch eine andere Alternative mit den Anderen besser umzugehen.

Edith Stein, eine deutsche Philosophin und Theologin, kann uns nach Antworten suchen helfen. Sie beschäftigte sich in ihrer Dissertation mit der „Einfühlung“. Als Einfühlung bezeichnet sie das Bemühen des Menschen, das Erleben anderer Menschen zu erfassen. Dazu gehören das eigene Ich (das Subjekt) und das fremde Ich, das Du (das Objekt), welche durch eine Gefühlsgemeinschaft miteinander verbunden sind. Sich bemühen, sich in das Andere einzufühlen, bringt mit sich, die Identität des Anderen nicht abzulehnen. Aber das bedeutet auch implizit, meine ich, sich selbst dieselbe Möglichkeit zu geben. Wenn ich um meine „Identität“ zu bestimmen, die Identität des Anderen verneinen muss, habe ich irgendwie meine „Identität“ oder mein „Ich“ auf die Verneinung der Anderen aufgebaut. Ich kann mich nur durch eine Negation oder Entziehung des Werts des Anderes bestimmen. Wenn ich hingegen lerne, mir und meiner Existenz einen Innenwohnenden Wert zuzuschreiben, abgesehen von meinen Leistungen und abgesehen von den Leistungen der Anderen, statt ein bewertendes Urteil anzuwenden, werde ich eine andere Erfahrung von mir und den Anderen machen. Edith Stein hat die Einfühlung als einen „Grundakt“ in der Beziehung zu anderen Personen beschrieben und als einen „Akt der Liebe“ bezeichnet.

Das erfordert aber eine große Arbeit an sich. Irgendwie ist es nämlich viel einfacher, eine Beziehung zu vermeiden oder abzubrechen, als die Bemühung, einen Ort in sich selbst zu schaffen, wo ich selbst als Person akzeptiert werde und folglich das Andere aufgenommen werden kann. Die Einfühlung ermöglicht somit, die Anderen wahrzunehmen und zu bestätigen. Diese Gefühlsgemeinschaft bildet sich jedoch durch den Zugang zu sich selbst und zu den eigenen Gefühlen. Wie Edith Steint uns lehrt: „Nur wer sich selbst als Person, als sinnvolles Ganzes erlebt, kann andere Personen verstehen”; sonst „sperren wir uns ein in das Gefängnis unserer Eigenart; die andern werden uns zu Rätseln oder, was noch schlimmer ist, wir modeln sie um nach unserem Bilde und fälschen so die … Wahrheit”.