Der Andere in der Ruhe aufzunehmen

Sich in die Ruhe zu versenken ist unerlässlich um den Sinn zu wählen, den man seinen eigenen Worten verleihen möchte, aber auch um den Sinn der Gespräche, die man anhört, in Perspektive zu setzen. Um über den Sinn eines bestimmten Gesprächs – sei es ein politisches, kulturelles oder religiöses – zu entscheiden, ist es notwendig, es mit einem Ruhehintergrund zu hören, und nicht in einem Geflecht von Informationen, die durchgesetzt werden und die uns zum Gefangenen machen ohne uns entscheiden zu lassen über den Sinn, den sie für unser Leben haben.

Die Ruhe sollte sich auch zwischen mir und dem anderen ergeben als ein Ort, an dem wir uns treffen können, egal welche unsere Unterschiede seien. Die Ruhe ist das erste Wort, das auf den anderen gerichtet wird. Das ist das Zeichen meiner Bereitschaft, ihn zu empfangen, wie er ist, ohne ihm mein Gespräch aufzuzwingen, ohne ihn in meiner Welt einzuschließen. Die Ruhe gegenüber dem anderen zu behalten, ist eine Weise, um ihm zu sagen, dass ich keine Forderung stelle, ihn kennenzulernen, dass ich ihm einen Ort anbiete, an dem er existieren kann, an dem er seine Unterschiedlichkeit zeigen kann, wie etwas, das mir unbekannt ist, und das ich akzeptiere zu empfangen. Meine Ruhe bedeutet, dass ich nicht alles weiß und dass ich bereit bin, eine Wahrheit zu hören, die dem anderen gehört, und ich ermutige ihn, diese zu leben, zu pflegen und auszudrücken, ohne dass sie meiner Wahrheit unterworfen wird.

 

Luce Irigaray