Die Ehe als Ort der Verwirklichung des Ichs

Gespräch mit Marco Guzzi

Laut einer Studie, die vor Kurzem vom Statistischen Bundesamt Destatis veröffentlicht wurde, lebt jede fünfte Person in Deutschland in einem Einpersonenhaushalt. Die Internetseite „Statista“ berichtet, dass 64,7% der Männer in Deutschland im Jahr 2019 unter 50 Jahre alt single sind. Dagegen sinkt der Anteil der Single-Frauen im gleichen Alter auf 35,3 %.Darunter gibt es die überzeugten Singles, die behaupten, dass sie kein Bedürfnis danach haben, ihr Leben mit einem Partner zu teilen. Die Einpersonenhaushalte sind insgesamt auch in Italien gestiegen und, nach einem Bericht des Instat Instituts, liegen sie bei ca. 33,39%. Besonders interessant ist, dass quasi die Hälfte davon Personen zwischen 15 und 64 Jahren sind (4.280.000 auf 8.659.000 Millionen). Wie interpretierst du, Marco, dieses Phänomen, das viele Menschen als „Krise der Familie“ bezeichnen? 

Ich glaube, um dieses Phänomen zu begreifen, müssen wir zuerst die anthropologische Lage, die wir gerade erleben und die sich auch in der so grundlegenden Institution der Familie widerspiegelt, besser verstehen. Die Krise, die wir gerade durchlaufen, ist – wie viele behaupten – eine anthropologisch-kulturelle Krise. Das bedeutet, dass es nicht nur ein einzelner Aspekt der Wirklichkeit ist, der in der Krise steckt. Was sich gerade ändert, sind die grundsätzlichen Umrisse der Struktur des menschlichen Ichs. Wir versuchen, in unseren Treffen diesen Übergang von einem anthropologischen Zustand zum anderen durch Interpretationsschlüssel zu erklären. Die Interpretation des Phänomens, die wir versuchen zu geben, ist, dass die anthropologische Figur, die gerade zu Ende geht, die egoisch-kriegerische Gestalt ist. Das bedeutet, dass alle Identitäten, die das menschliche Ich bilden, wie zum Beispiel männlich zu sein, Italiener oder Deutscher zu sein, rechts oder links zu sein, Christ zu sein und so weiter, sich im Wesentlichen auf eine sich widersetzende oder polemische Weise abzeichnen. Ich bin umso mehr Mann, je mehr ich mich unter jeglichem Gesichtspunkt (Erziehung, Verhalten, …) vom Weiblichen trenne. Oder aber ich bin umso mehr Christ, je mehr ich das verteufle oder mich von dem trenne, was nicht christlich ist. Diese Weise, Mensch zu sein, erledigt sich gerade, und zwar in einer dramatischen Krise, die im Grunde das ganze 20. Jahrhundert begleitet hat. Wir haben mit unseren Augen gesehen – wie zum Beispiel durch die Weltkriege oder die Atombombe – dass, wenn wir weiterhin gemäß dieser anthropologischen Form leben, nämlich auf egoisch-kriegerische Weise, wir uns zerstören. Das ist die Zeit, die uns zum Leben gegeben wurde. Und in dieser Zeit ist es offensichtlich, dass alle Formen, die das Ich bilden und auf gewisse Weise noch an diese Lebensmodalität gebunden sind, zu Ende gehen. Diese Krise der patriarchalischen Ehe ist ganz einfach eine Übergangskrise. In Wirklichkeit merken wir, dass, wenn wir einzeln mit den Menschen sprechen, so wie bei unseren Gruppentreffen zum Beispiel, nur eine bestimmte Vorstellung von Ehe abgelehnt wird. Ein Bild, das aus der Vergangenheit kommt. Diese Personen lehnen falsche Beziehungen ab, Beziehungen, die nicht authentisch sind, Zweckehen. Sie suchen dagegen mehr Freiheit, aber sie täuschen sich, wenn sie glauben, dass Freiheit im Alleinsein zu finden ist. Wir leben heute in einer sehr schwierigen Phase, da es auf der einen Seite eine nihilistische Strömung gibt, die die anthropologischen Formen vernichtet. Man will die Ehe nicht verändern, sondern die Ehe zerstören. Man will die nationalen Identitäten nicht ändern, sondern man will sie verneinen, da sie als kriegerisch wahrgenommen werden. Es gibt also eine nihilistische Strömung, aber auch eine neo-fundamentalistische Strömung, die dagegen lieber zur Vergangenheit zurückkehren würde.

Du hingegen Marco gehst einen ganz anderen Weg und sprichst oft über die Verbindung der Geschlechter als laboratorio iniziatico1 und über die Ehe als „grundsätzlichen Ort der Verwirklichung des Ichs“. Könntest du uns erklären, wie man die eigene individuelle Freiheit in einer Beziehungen vollkommen verwirklichen kann?

Um auf diese Frage antworten zu können, müssen wie die Grundrisse des menschlichen Ichs, die sich gerade abzeichnen, besser verstehen. Wir haben schon gesagt, dass wir von einem prinzipiell egoisch-kriegerischen Ich abstammen, das seine eigenen Identitäten immer anhand des Gegenteils von sich selbst definiert und auf diese Weise stärkt. Dieses Ich stirbt gerade, zwischen Pandemien, Weltkriegen, Nervenzusammenbrüchen und Katastrophen, die wir leider auch noch vor uns haben. Unterdessen gehen wir als menschliche Wesen zu einer anderen anthropologischen Gestalt über, die wir als „beziehungsfähiger“ bezeichnen können. Ein Ich, das seine eigene Identität verstärkt, indem es die Mühe einer Beziehung mit dem anderen eingeht. D.h. ich bin nicht umso „männlicher“, je mehr ich mich der Weiblichkeit, die auch in mir ist, widersetze, sondern ich entdecke vielmehr meine wahre Männlichkeit, indem ich in eine noch tiefere und intimere Beziehung mit der Weiblichkeit komme. Wenn wir gerade in Richtung eines „beziehungsfähigeren“ Ichs gehen, dann ist es klar, dass die Ehe, als grundlegende Beziehung zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen, die gemeinsam das Ebenbild Gottes bilden, der entscheidende Ort ist, an dem sich die Menschheit, die gerade entsteht, verwirklichen kann. Für mich ist es also ein zentraler Ort der Mystik des 21. Jahrhunderts und für die darauffolgenden. Es ist in der Ehe, also in der schwierigsten, radikalsten, tiefsten und völligsten Vereinigung von zwei Menschen, dass wir uns in der Relationalität üben können. Es ist ein sehr schwieriges Kunstwerk, das schwierigste. Wenn wir es nämlich Ernst nehmen, bedeutet es, sich in jedem Moment, Jahr für Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt, mit allen Teilen von uns, die in Wirklichkeit keine Einheit eingehen möchten, die Angst haben, die Kontrolle zu verlieren, auseinanderzusetzen. Und die Ehe wird somit zu einem privilegierten Ort des Auferstehens einer neuen  Menschheit.

(1) Laboratorio iniziatico (wörtl. einführendes Labor) beschreibt einen Ort der Umwandlung des Ichs und des Übergangs des Ichs von einer Form zur nächsten